Aktuelles Projekt

Eine Konsum- und Kulturgeschichte des Mineralwassers in Europa von 1800 bis in die Gegenwart

Natürliches Mineralwasser ist heute in den meisten Teilen Europas ein alltägliches und allgegenwärtiges Konsumgut. Wir trinken es nicht nur zu Hause oder im Restaurant, sondern auch unterwegs im Zug oder im Auto, bei der Arbeit, beim Sport, in der Theaterpause oder bei öffentlichen Veranstaltung. In beinahe allen Lebenslagen, zu beinahe allen Zeiten und an fast allen Orten ist Mineralwasser ein angemessenes Getränk. Dementsprechend ist Mineralwasser beinahe überall im Handel und in der Gastronomie erhältlich. Wo es Getränke zu erwerben gibt, gibt es auch Mineralwasser. Mineralwasser ist ein selbstverständlicher Begleiter durch unser Leben, dessen Verbrauch wir kaum Beachtung schenken.

So selbstverständlich uns die Präsenz des Mineralwassers erscheint, so neu ist dieses Phänomen. Vor 200 Jahren war es alles andere als ein alltägliches Getränk, denn die meisten Konsumentinnen und Konsumenten nahmen es als ein Medikament gegen meist chronische Krankheiten zu sich. Sie reisten dafür nach Rücksprache mit ihrem Hausarzt in einen der zahllosen europäischen Kurorte oder kauften abgefülltes Mineralwasser, um sich dort oder in den eigenen vier Wänden über mehrere Wochen hinweg einer Trinkkur zu unterziehen. Weil Reisen und der Transport von Waren über weite Strecken hinweg vor der Verbreitung der Eisenbahn kostspielig und zeitraubend waren, konnten sich nur Personen mit einem gewissen Vermögen eine solche Kur leisten. Sie war weitgehend dem Adel und dem Bürgertum vorbehalten.

Der Kontrast zu unserem heutigen selbstverständlichen Mineralwasserkonsum könnte kaum größer sein und verlangt eine Erklärung. Denn während das natürliche Mineralwasser im 19. Jahrhundert, also zu einem Zeitpunkt, an dem die therapeutischen Möglichkeiten der Medizin begrenzt waren, einen konkreten Zweck erfüllte, der seinen hohen Preis in den Augen der Konsumentinnen und Konsumenten rechtfertigte, so ist der Mehrwert, den wir uns heute vom Mineralwasser versprechen weit weniger klar. Schließlich existiert mit dem Leitungswasser in den meisten Gegenden Europas ein Konkurrenzprodukt, das für einen wesentlich geringeren Preis bequem nach Hause geliefert wird und das physiologisch eine ähnliche Funktion erfüllt, nämlich dem Körper die notwendige Flüssigkeit zuzuführen.

In meinem Forschungsprojekt untersuche ich deshalb die Frage, wie sich das Mineralwasser von einem hauptsächlich von Eliten konsumierten Medikament zu einem allgegenwärtigen Massenkonsumgut mit Lifestyle-Charakter entwickelt hat. Mich interessiert dabei vor allem die Perspektive der Verbraucherinnen und Verbraucher: Was sie sich vom Konsum versprachen, wie sich ihre Gründe für den Konsum über etwa zwei Jahrhunderte hinweg veränderten, wie sie den Konsum in ihren Alltag integrierten und welchen Beitrag er zur individuellen Sinnstiftung leistete. Von den zahlreichen Gründen für den Konsum von Mineralwasser waren zwei durchgehend präsent und von besonderer Bedeutung: sein besonderer Geschmack und seine gesundheitsfördernde Wirkung. Deshalb lege ich diese beiden Gründe meinen besonderen Fokus.

Da sich die Praktiken wie die Gründe für den Konsum über 200 Jahre hinweg so stark änderten, versuche ich nicht eine lineare Entwickungsgeschichte zu erzählen. Der Wandel des Mineralwasserkonsums war zudem nicht nur von den sich verändernden Erwartungen und Wünschen der Verbraucherinnen abhängig, sondern auch von der technischen und wirtschaftlichen Entwicklung der Produktion und der Präsenz des Mineralwassers im Handel. Deshalb wende ich das Konzept des Konsumregimes auf das Konsumgut Mineralwasser in seinen verschiedenen Konfigurationen von Konsum, Produktion und Distribution an, ohne den Fokus auf den individuellen Verbrauch zu verlieren.

In meinem Projekt unterscheide und untersuche ich vier Konsumregime des Mineralwassers als Getränk: die Trinkkur im Kurort, die Trinkkur zuhause, das gesunde Lebensmittel und das Lifestyle-Produkt. Diese vier Konsumregime folgten nicht zeitlich aufeinander. Sie hatten ihren jeweils eigenen Zyklus des Aufschwungs, Höhepunkts und Niedergangs, den ich an ihrer ökonomischen und kulturellen Bedeutung ermesse. All vier bestanden zumindest für einen gewissen Zeitraum gleichzeitig und alle vier existieren immer noch, wenn auch zum Teil in einer Nische. Ein fünftes Konsumregime, die Badekur, ignoriere ich weitgehend, weil sie keinen Beitrag zur Entwicklung des heutigen Mineralwasserkonsums leistete.

Die Trinkkur im Kurort war die auffälligste und prestigereichste Form der Mineralwasserkonsums im 19. Jahrhunderts, denn sie fand in der Öffentlichkeit statt. Zahllose Europäerinnen und Europäer suchten zwischen 1815 und 1880 einen Kurort auf, um dort Mineralwasser zu trinken und darin zu baden. Die meisten von ihnen taten dies nicht freiwillig, denn hochmineralisierte und heiße Mineralwässer galten als besonders heilkräftig, schmeckten aber deshalb häufig schlecht. Die Trinkkur brauchte also ein gehöriges Maß an Überwindung, wobei die (oftmals trügerische) Hoffnung auf Heilung oder zumindest Linderung des persönlichen Leidens half. Allerdings waren die Kurgäste bei der Einhaltung der Kur weitgehend auf sich allein gestellt. Anders als in den Sanatorien des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts war die Einhaltung ihrer ärztlichen Verschreibung selbst zuständig. Ihnen half dabei der soziale Druck des Trinkens in der Gesellschaft, die Ablenkung durch die prächtige Architektur, die Parks, die idyllische Landschaft und die anregenden Konversationen, die den monothonen Rhythmus der Trinkkur erträglicher machten.

All diese äußeren Annehmlichkeiten des Kuralltags fehlten bei einer Trinkkur im eigenen Haushalt. Patientinnen und Patienten, die nicht in einen Kurort reisen konnten oder wollten, hatten die Möglichkeit mit versandtem Mineralwasser von dessen therapeutischen Kräften zu profitieren. Dafür mussten sie bei Mineralbrunnen oder im Mineralwasserhandel eine ausreichende Menge rechtzeitig bestellen und diese über den Lauf von mehreren Wochen nach Anweisung ihres Hausarztes konsumieren. Anders als in den Kurorten mussten sie dafür Zeit in ihrem Alltag schaffen, auch in den eigenen vier Wänden dauerte die Trinkkur jeden Tag eine Stunde oder mehr. Viele richteten deshalb ein eigenes Zeitfenster am Morgen ein, in dem sie vor der Arbeit tranken, je nach persönlicher Konstitution spazieren gingen und versuchten die Konsumpraktiken des Kurorts so gut wie möglich nachzuahmen und durch die Ritualisierung die notwendige Selbstdisziplin aufzubringen.

Während des letzten Drittel des 19. Jahrhunderts fanden einige Mineralbrunnen nicht nur als Medikament Verwendung, sondern als ein gesundes Getränk, das bevorzugt zu Speisen und zur Erfrischung gemischt mir Säften, Wein oder Spirituosen getrunken wurde. Solche Mineralwässer waren meist gering mineralisiert und kohlensäurehaltig, sodass ihr Eigengeschmack nicht den Genuss anderer Speisen und Getränke beeinträchtigte. Dennoch erwarteten die Konsumentinnen und Konsumenten vom Mineralwasser eine gesundheitsfördernde Wirkung, die häufig in einem Ausgleich der negativen Eigenschaften anderer Lebensmittel wie alkoholischen Getränken und schweren Speisen bestand. Als ein natürliches Produkt stellte das Mineralwasser zugleich ein Gegengewicht zum zunehmend als künstlich und schädlich wahrgenommenen und empfundenen städtischen Leben dar. Davon profitierte eine begrenzte Anzahl von bekannten Mineralbrunnen, die ihren Ausstoß durch diese neue Nutzungsform vervielfachen konnten. Die hohe Nachfrage remutigte findige Unternehmer nach geeigneten, aber noch unerschlossenen Mineralwasservorkommen zu suchen und diese auf den Markt zu bringen. Ihre meist in urbanen und bürgerlichen Konsumenten fanden diese Wässer nicht länger in speziellen Mineralwasserhandlungen, sondern in den Läden des Einzelhandels. Weil viele Mineralwässer immer noch als Medikament galten, aber zugleich in großer Menge als Lebensmittel konsumiert wurden, stellte sich die Frage nach ihrem rechtlichen Status immer dringender. Auch wenn diese in den verschiedenen Staaten des Kontinents unterschiedlich beantwortet wurde, etablierte sich das Mineralwasser als ein zumindest in Teilen des Bürgertums alltägliches Lebensmittel.

Um das Jahr 1970 sahen sich die meisten (West-)Europäerinnen und (West-)Europäer mit den Konsequenzen ihres Wohlstands konfrontiert. Zivilisationskrankheiten entwickelten sich zu einem Massenphänomen und die Umweltverschmutzung schien eine wachsende Gefahr für ein gesundes Leben darzustellen. In dieser Sitzuation versuchten viele Menschen ihre Ernährung umstellen und mehr natürliche, kalorienarme und reine Lebensmittel zu sich zu nehmen. Das Mineralwasser entsprach all diesen Kriterien und dank der verbesserten Produktionstechnik sank sein Preis zu Zeiten allgemein wachsender frei verfügbarer Einkommen, sodass es sich nicht nur Wohlhabende regelmäßig leisten konnten. Sie kauften es in den neuen Super- und Getränkemärkten und fuhren es nicht mehr in einzelnen Flaschen, sondern in Kisten nach Hause, wo es schnell getrunken wurde. Das Mineralwasser wurde so zu einem alltäglichen Konsumgut breiter Bevölkerungsschichten. Es wurde ein Lifestyle-Produkt, nicht weil es von den Anhängerinnen und Anhängern eines bestimmten Lebensstils oder einer Subkultur konsumiert wurde, sondern weil es als ein gesundes, kalorienloses, reines und natürliches Lebensmittel beinahe ausschließlich mit positiven Eigenschaften konnotiert war, die für beinahe alle Lebensstile anschlussfähig waren. Die meisten Konsumentinnen und Konsumentinnen tranken es nicht wegen konkreter physiologischer Effekte oder materieller Charakteristika. Stattdessen waren es die mit dem Mineralwasser assoziierten Narrative und zugeschriebenen Eigenschaften, die sich die Verbraucherinnen und Verbraucher einverleiben konnten.

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